"Ja. Einstweilen. Solange die Notgemeinschaft hier notwendig ist. Und dann?"

"Dann", sagte Werner, erstaunt über so viel Unwissenheit, "dann muß selbstverständlich eine Partei da sein, die die Macht übernimmt. Eine geschlossene Partei; nicht ein Haufen zusammengewürfelter Menschen."

"Also deine Partei. Die Kommunisten."

"Wer sonst?"

"Jede andere", sagte 509. "Nur nicht wieder eine totalitäre."

Werner lachte kurz auf. "Du Narr! Keine andere, nur eine totalitäre. Siehst du nicht die Zeichen an der Wand? Alle Zwischenparteien sind zerrieben. Der Kommunismus ist stark geblieben. Der Krieg wird zu Ende gehen. Rußland hat einen großen Teil Deutschlands besetzt. Es ist bei weitem die stärkste Macht in Europa. Die Zeit der Koalition ist vorbei. Dieses war die letzte. Die Alliierten haben dem Kommunismus geholfen und sich selbst geschwächt, die Narren. Der Weltfriede wird abhängen von - " "Ich weiß", unterbrach ihn 509. "Ich kenne das Lied. Sag mir lieber, was mit denen geschähe, die gegen euch sind, wenn ihr gewinnen würdet und die Macht hättet? Oder mit denen, die nicht für euch sind?"

Werner schwieg einen Moment. "Da gibt es viele verschiedene Wege", sagte er dann.

"Ich kenne welche. Du auch. Töten, Foltern, Konzentrationslager - meinst du die auch?"

"Unter anderem. Je nachdem, was notwendig ist." 

"Das ist ein Fortschritt. Wert dafür hier gewesen zu sein."

"Es ist ein Fortschritt", erklärte Werner unbeirrt. "Es ist ein Fortschritt im Ziel. Und auch in der Methode. Wir tun nichts aus Grausamkeit. Nur aus Notwendigkeit."

"Das habe ich oft genug gehört. Weber hat mir das auch erklärt, als er mir Streichhölzer unter die Nägel trieb und sie anbrannte. Es war notwendig, um Informationen zu bekommen." Das Atmen des weißhaarigen Mannes ging in das stockende Todesröcheln über, das jeder im Lager kannte. Das Röcheln setzte manchmal aus; dann hörte man in der Stille das leise Grollen am Horizont. Es war wie eine Litanei - der letzte Atem eines Sterbenden und die Antwort aus der Ferne. Werner sah 509 an. Er wußte, daß Weber ihn wochenlang gefoltert hatte, um Namen und Adressen von ihm zu bekommen. Werners Adresse auch. 509 hatte geschwiegen. Werner war dann später von einem schwachen Parteigenossen verraten worden. "Warum kommst du

nicht zu uns, Koller?" fragte er. "Wir können dich gebrauchen."

"Das hat Lewinsky mich auch gefragt. Und darüber haben wir beide schon vor zwanzig Jahren diskutiert." Werner lächelte. Es war ein gutes, entwaffnendes Lächeln. "Das haben wir. Oft genug. Trotzdem frage ich dich wieder. Die Zeit des Individualismus ist vorbei. Man kann nicht mehr alleinstehen. Und die Zukunft gehört uns. Nicht der korrupten Mitte."

509 blickte auf den Asketenkopf. "Wenn dieses hier vorbei ist", sagte er langsam, "dann soll es mich wundern, wie lange es dauern wird, bis du ebenso mein Feind bist, wie die da auf den Türmen es jetzt sind."

"Nicht lange. Wir hier hatten eine Notgemeinschaft gegen die Nazis. Die fällt weg, wenn der Krieg zu Ende ist."

509 nickte. "Es soll mich ebenfalls wundern, wie lange es dauern würde, wenn ihr die Macht hättet, bis du mich einsperren ließest."

"Nicht lange. Du bist immer noch gefährlich. Aber du würdest nicht gefoltert werden."

509 zuckte die Achseln.

"Wir würden dich einsperren und arbeiten lassen. Oder dich erschießen."

"Das ist tröstlich. So habe ich mir euer goldenes Zeitalter immer vorgestellt."

"Deine Ironie ist billig. Du weißt, daß Zwang nötig ist. Er ist die Verteidigung für den Beginn. Später wird er nicht mehr erforderlich sein."

"Doch", sagte 509. "Jede Tyrannei braucht ihn. Und jedes Jahr mehr; nicht weniger. Das ist ihr Schicksal. Und immer ihr Ende. Du siehst es hier."

"Nein. Die Nazis haben den fundamentalen Irrtum begangen, einen Krieg anzufangen, dem sie nicht gewachsen waren."

"Es war kein Irrtum. Es war eine Notwendigkeit. Sie konnten nicht anders. Hätten sie abrüsten müssen und Frieden halten, so wären sie bankrott gewesen. Es wird euch ebenso gehen."

"Wir werden unsere Kriege gewinnen. Wir führen sie anders. Von innen."

"Ja, von innen und nach innen. Ihr könnt die Lager hier dann gleich behalten. Und sie füllen."

"Das können wir", sagte Werner völlig ernst. "Warum kommst du nicht zu uns?" wiederholte er dann.

"Genau deshalb nicht. Wenn du draußen an die Macht kämst, würdest du mich liquidieren lassen. Ich dich nicht. Das ist der Grund."

 

Erich Maria Remarque, 1952, "Der Funke Leben", KiWi 165, Seite 308-310, Finder: W&W '93

         

Im Westen nichts Neues

Der Weg zurück

Drei  Kameraden

Zeit zu leben und Zeit zu  sterben

Der Funke Leben

Die Nacht von         Lissabon

Liebe Deinen          Nächsten

Arc de Triomphe

anderen Quellen ...

Kommentare,Texte, Kunst, Dokumente

Rem@rqueNet