Ein kleiner, alter Kellner, der wie ein Marabu aussah, erschien. Er brachte die Speisekarte. Graeber nahm sie, legte einen Geldschein hinein und gab sie dem Marabu zurück. "Wir möchten etwas haben, was nicht auf der Karte steht. Was gibt es?"

Der Marabu blickte ihn ausdruckslos an. "Wir haben nichts anderes da, als was auf der Karte steht."

"Gut. Dann bringen Sie uns einstweilen eine Flasche Johannisberger Kochsberg 37, Kellerabzug G. H. von Mumm. Nicht zu kalt." Das Auge des Marabu belebte sich. "Sehr wohl, mein Herr", sagte er mit plötzlichem Respekt. Dann beugte er sich vor. "Wir haben zufällig etwas Ostender Seezunge da. Ganz frisch. Dazu vielleicht einen belgischen Salat und ein paar Petersilienkartoffeln."

"Gut. Und was haben Sie als Vorspeise? Keinen Kaviar natürlich zu dem Wein."

Der Marabu belebte sich noch mehr. "Selbstverständlich nicht. Aber wir haben noch ein wenig getrüffelte Straßburger Gänseleber -"

Graeber nickte.

"Und hinterher empfehle ich Ihnen ein Stück Holländer Käse. Der bringt die Blume des Weins dann ganz heraus."

"Ausgezeichnet."

Der Marabu verschwand angeregt. Er mochte Graeber vorher für einen Soldaten gehalten haben, der sich zufällig hierher verirrt hatte; jetzt sah er in ihm einen Kenner, der zufällig Soldat war. Elisabeth hatte erstaunt zugehört. "Ernst", sagte sie, "woher weißt du das alles?"

"Von meinem Kameraden Reuter. Heute morgen wußte ich noch nichts davon. Er ist ein so großer Kenner, daß er sich damit eine Gicht geholt hat. Die aber rettet ihn jetzt vor der Front. So wird, wie immer, die Sünde belohnt."

"Aber die Tricks mit den Trinkgeldern und der Speisekarte - " "Alles von Reuter. Er weiß hier Bescheid. Auch das sichere weltmännische Auftreten hat er mir beigebracht."

Elisabeth lachte plötzlich. Es war ein warmes, befreites und zärtliches Lachen. "Ich habe dich, weiß Gott, nicht so in Erinnerung!" sagte sie.

"Ich dich auch nicht so, wie du jetzt bist."

Er blickte sie an. Er hatte sie nie vorher so gesehen. Sie veränderte sich völlig, wenn sie lachte. Es war, als öffneten sich plötzlich alle Fenster eines dunklen Hauses. "Das ist ein sehr schönes Kleid", sagte er etwas verlegen.

Erich Maria Remarque, 1954, "Zeit zu leben und Zeit zu Sterben", KiWi 193, Seite 165-166,   Finder: W&W '93 

      

Im Westen nichts Neues

Der Weg zurück

Drei  Kameraden

Zeit zu leben und Zeit zu  sterben

Der Funke Leben

Die Nacht von         Lissabon

Liebe Deinen          Nächsten

Arc de Triomphe

andere Quellen ...

Kommentare und Aktuelles               

Rem@rqueNet